Es bedarf eigentlich keiner weiteren Erklärung: Wir leben in gefahrvollen Zeiten — die sich zuspitzende Klimakrise, eine unerbittliche Pandemie, der erschütternde Verlust bei der Artenvielfalt und die rapide um sich greifende Armut, insbesondere in den land- und forstwirtschaftlich geprägten Gesellschaften. Bleibt die Frage, wie wir mit all diesen Herausforderungen umgehen sollen.
Im Folgenden sucht Santiago Gowland, CEO der Rainforest Alliance und seit diesem Jahr mit der operative Leitung der Organisation betraut, Antworten auf diese dringliche Frage. Aufgrund seines Beitrags an nachhaltigen Initiativen bei Unilever, Estée Lauder und Nike weiß Gowland nur zu genau um die Rolle, die solche Unternehmen bei der Lösung dieser gewaltigen globalen Krisen spielen können und müssen — und wie die Rainforest Alliance mehr und umfassender zu einer Welt, die besser für Mensch und Natur ist, beitragen kann.
F: Es klingt schon fast nach einem Klischee, dass wir heute in noch nie dagewesenen Zeiten leben, doch ist es deswegen nicht weniger wahr: Die Welt ist mit einer hohen Anzahl ungeheuerlicher Krisen gleichzeitig konfrontiert. Was ist die Ursache all dieser Probleme und wie können wir sie am besten bewältigen?
A: Wie bei jedem Klischee findet sich auch hier ein Körnchen Wahrheit. Wir alle werden in einem bestimmten Moment in der Geschichte hineingeboren. Aktuell steht aber der Fortbestand des Lebens auf unserem Planeten selbst auf dem Spiel. Die Rainforest Alliance hat die Möglichkeit — und ich sehe darin eine zwingende Notwendigkeit — in diesem Augenblick mit viel Energie, Hingabe, Ehrgeiz und strategischem Handeln zu reagieren.
Die Märkte — besonders die Landwirtschaft und die Lebensmittelproduktion sowie die dazugehörige Infrastruktur wie zum Beispiel Straßen — sind die Hauptschuldigen für die Zerstörung des tropischen Regenwalds und den Verlust der Artenvielfalt. Daran kann kein Zweifel bestehen. Wir wissen natürlich, dass Abholzung und Degradierung zur Klimakrise und zur Entstehung neuer Infektionskrankheiten wie dem neuen Coronavirus beigetragen haben. Doch liegt im Lebensmittelsektor, also genau die Kraft, die diese Krisen vorangetrieben hat, möglicherweise die geeignetste Chance, die wir haben, um Artenvielfalt wiederherzustellen und Kohlenstoffbindung zu beschleunigen. Dafür brauchen wir vor allem die Regenerierung der Wäldern sowie gesunde Böden, und das im erforderlichen Tempo und Umfang.
F: Wie arbeitet die Rainforest Alliance an dieser Transformation?
A: Um einen Markt zu transformieren, muss man im Wesentlichen drei Dinge ändern: Angebot (von nicht nachhaltigen zu nachhaltigen Produkten), Nachfrage (VerbraucherInnen, die nachhaltige Produkte wollen) und die Marktregeln. Mit der Änderung der Marktregeln ist die Einführung von Gesetzen und freiwilligen Standards wie unserem eigenen Zertifizierungssystem gemeint, die Unternehmen einen Anreiz bieten, ihre Arbeitsweise zu verbessern.
Genau das macht die Rainforest Alliance seit mehr als dreißig Jahren. Heute sehen wir Unternehmen, die sich Ziele setzen — es gibt um die 1.500 Unternehmen, die sich bereits Null-Netto-Emissionen zum Ziel gesetzt haben, und darüber hinaus noch viel mehr Unternehmen mit nachhaltigen Zielen. Zugleich mobilisieren sich die BürgerInnen und verlangen nach gesünderen und nachhaltigeren Produkten. Regierungen sehen sich zunehmend der Entwicklung von Klima, Artenvielfalt und Nachhaltigkeit verpflichtet. Die Finanzierung für das Impact Investing wächst exponentiell stark.
Wir stehen an einem entscheidenden Wendepunkt und die Rainforest Alliance ist dazu bereit, voranzugehen, vielleicht mehr als jede andere Organisation. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, unsere Anstrengungen zu verdoppeln, um die wirklich wichtigen Landschaften wiederherzustellen, in den wirklich relevanten Sektoren, in einem wirklich richtigen Tempo und Ausmaß. Mit weniger gibt sich unsere Mission nicht zufrieden.
F: Wie muss sich die Lebensmittelproduktion verändern, um diese Ziele und Verpflichtungen einhalten zu können?
Wir müssen von einem Ansatz der Schadensbegrenzung hin zu einer regenerativen Herangehensweise kommen, um die besten Wege zu finden, die Artenvielfalt zu bereichern, die Kohlenstoffbindung zu erhöhen sowie in der Landwirtschaft Böden wiederherzustellen und zu regenerieren. Es reicht nicht aus, einfach nur keinen Schaden mehr anzurichten. Zum Glück haben viele Unternehmen genau das bereits richtig erkannt.
F: Die Rainforest Alliance arbeitet auch mit Waldgemeinschaften zusammen. Welche Veränderungen müssen in der Forstwirtschaft eintreten?
A: Die Rainforest Alliance blickt auf eine lange Geschichte bei der Zusammenarbeit mit gemeinschaftlicher Forstwirtschaft zurück. Dabei handelt es sich um einen effektiven Weg, die Artenvielfalt zu schützen, während zugleich die Wirtschaft vor Ort gefördert wird. Mit nachhaltig gewonnenen Holz- und Nichtholzprodukten (NTFPs), wie Xate (Palmwedel, die für Blumengestecke verkauft werden) sowie Baumnüssen, haben wir Marktverbindungen herstellen können. In den Konzessionen des Maya Biosphere Reservats in Guatemala konnten wir beispielsweise beobachten, dass Gemeinschaften, die wirtschaftlich florieren, eine hohe Motiviation haben, die eigene Einkommensgrundlage, nämlich den Wald, zu schützen. Tatsächlich ist die Abholzungsrate in diesen Gemeinschaften praktisch auf Null gesunken. Der Wandel, der in der Forstwirtschaft und bei Waldprodukten vollzogen werden muss, dreht sich in Wirklichkeit darum, die Marktseite zu intensivieren.
Selbstverständlich kann es keine Lösung für die Umwelt geben, in der es nicht auch um Menschenrechte geht. Nur wenn wir die Erzeugergemeinschaften stärken — und dabei den paternalistischen Ansatz von oben herab hinter uns lassen — können wir einen sinnvollen Wandel vorantreiben. Die Rainforest Alliance bringt diese Vision, in der die Menschen im Mittelpunkt stehen, mit der Schaffung nachhaltiger Märkte zusammen. Wir haben uns schon immer einem Ethos des Zuhörens verschrieben und vertiefen dieses gerade als Teil unserer Führungsprioritäten. Die Bedürfnisse und Möglichkeiten von FarmerInnen und Waldgemeinschaften sind unser Auftrag und unser Kompass.
F: Sie meinen scheinbar nicht nur eine pragmatische Herangehensweise, sondern eine ganz andere Sichtweise, einen fast schon geistigen Wandel?
A: Es gibt eine spirituelle und emotionale Weisheit, über die indigene und ländliche Gemeinschaften verfügen, während andere diese bereits aufgrund von Verstädterung und Konsumerismus verloren haben — auf Kosten ihrer körperlichen und geistigen Gesundheit. Ich nehme ein unglaubliches Ausmaß an Einsamkeit, Angst und Stress in der so genannten westlichen Kultur wahr, die es so in den Gemeinschaften im Regenwald nicht gibt. Wir können viel von diesen Menschen lernen, die im Einklang mit der Natur leben, und noch mehr von deren Vorfahren. Vor allem, dass auch wir ein Teil der Natur sind und dass es zum Wesen des Menschen gehört, miteinander verbunden zu sein, weil wir alle ein gemeinsames Zuhause haben. Und dass wir die lebenswichtigen Ökosysteme aktuell selbst zerstören, von denen eigentlich unser Leben im wahrsten Sinne des Wortes abhängt.
F: Es leuchtet ein, dass Erzeugergemeinschaften, die ein Mitspracherecht über die Art der Zusammenarbeit mit Unternehmen erhalten, zugleich auch finanziell gerecht beteiligt werden müssen, oder?
A: Ja, das auf jeden Fall. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die am stärksten bedrohten Ökosysteme in den ärmsten Ländern zu finden sind. Doch wir müssen auch einen Fehler eingestehen: In den letzten Jahren verdienen Unternehmen immer mehr Geld, während die FarmerInnen immer weniger davon abbekommen. Diese Lücke klafft immer weiter auseinander.
Es stellt sich also die Frage: Wie können wir als Rainforest Alliance Unternehmen dazu bringen, ihre Führungsrolle mutiger zu gestalten? Was müssen wir anders machen? Wir wollen nicht weiter daran teilhaben, diese perverse Marktdynamik aufrechtzuerhalten, indem wir so tun, etwas sei in Ordnung, was eigentlich von Grund auf falsch ist. Spielen wir das Spiel weiter mit oder wirken wir dieser klaffenden Lücke endlich entgegen? Wir müssen die Messlatte höher anlegen und energischer werden — während wir zugleich weiter pragmatisch bleiben. Denn wir wollen die Zusammenarbeit mit diesen Sektoren nicht beenden. Ohne sie werden wir nicht in der Lage sein, den nötigen Einfluss auszuüben.
F: Was wird die Rainforest Alliance unter Ihrer Führung anders machen, um den Wandel voranzutreiben?
A: Die höchste Prioriät hat für mich, dass die Rainforest Alliance sich wirklich auf ihre Einflussmöglichkeiten besinnt — auf wissenschaftlich fundierte Ergebnisse, — die mit den SDGs [den Zielen der UN für nachhaltige Entwicklung], der Verpflichtung des Übereinkommens von Paris, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, und der Biodiversitätskonvention, 30 Prozent des Planeten bis 2030 zu schützen, übereinstimmen. Wir müssen uns selbst als Organisation neu beleben, um jeden möglichen Weg aufzuspüren, die Marktkräfte, die ursprünglich für die Umweltzerstörung verantwortlich waren, zu nutzen, um lebenswichtige Ökosysteme wiederherzustellen und Gemeinschaften zu stärken. Auf unserem Weg werden wir jene Projekte bevorzugen, die die ganze Stärke unserer Organisation – das ganze Paket an Interventionen, von Landschaften über Lobbyarbeit bis hin zur Zertifizierung – nutzen.
F: Trotz der gewaltigen Herausforderungen vor denen wir uns befinden, scheinen Sie dennoch sehr optimistisch zu sein, dass die Rainforest Alliance dazu in der Lage ist, sich diesen Herausforderungen zu stellen?
A: Wissen Sie, was wirklich visionär war? Als die Rainforest Alliance vor mehr als dreißig Jahren an den Start ging, die Tatsache, dass es sich um ein echtes Bündnis handelt. Nur wenn wir mit allen Bereichen der Gesellschaft zusammenarbeiten — FarmerInnen, Waldgemeinschaften, Regierungen, Unternehmen, VerbraucherInnen, — können wir zusammen diese Herausforderungen angehen. Es gibt also bereits ein starkes Bündnis, das motiviert, engagiert und dazu bereit ist, sich gemeinsam für Mensch und Natur einzusetzen. Als Organisation hat die Rainforest Alliance eine hervorragende Ausgangsposition, jenen Wandel anzuschieben, den es jetzt braucht. Darum bin ich tatsächlich optimistisch und voller Energie.